Predigten

Predigten über Jakob-Teil 1

Predigt am 9. Sonntag nach Trinitatis
Predigttext: 1. Mose 25, 19-28, Jakob - Geburt und Kindheit
Prediger: Pfr. Andreas Friede-Majewski


Liebe Gemeinde,

in den kommenden Wochen sollen uns die biblischen Texte begleiten, die von Jakob erzählen. Es ist einer der großen Erzählzyklen des Alten Testamentes, die die Erzväter vorstellen, der im Mittelpunkt der Predigtreihe steht.
Was für einen Sinn macht das, diese alten Geschichten aufzuwärmen?
In diesen Geschichten begegnen wir nicht nur einer geschichtlichen Gestalt einer fernen Zeit. Es ist der Anspruch dieser Geschichten, dass wir in ihnen uns selbst und Gott begegnen. Ihr Thema ist, wie ein Mensch zu sich selbst, zu Gott und zu seinen Mitmenschen findet, wie er lernt, Mensch zu werden – egal, in welcher Zeit er lebt. Es sind Väter- und Müttergeschichten nicht im biologischen Sinne, sondern im spirituellen Sinne. Hier können wir unsere Wurzeln finden. Wir schauen in den tiefen Brunnen der Geschichte und sehen am Grunde des Brunnens - uns selbst.

Die Geschichte Jakobs beginnt noch vor seiner Geburt – so wie jeder unserer Geschichten. Jakobs Geschichte beginnt damit, dass es ihn eigentlich nicht geben dürfte. Denn seine Mutter ist unfruchtbar, wie alle wichtigen Mütter der Bibel. Unfruchtbarkeit ist in dieser Zeit das Schlimmste, was einer Frau und ihrer Familie widerfahren kann. So beginnt auch unser aller Geschichte mit den Frauen, die uns geboren haben und für uns alle gilt: Es ist nicht selbstverständlich, dass es uns gibt. Was war mit der Frau, die uns empfangen hat, als sie uns empfing? Mit welchen Gefühlen, Sehnsüchten, Wünschen, Gedanken, mit welcher Sorge, welchem Leid hat sie uns getragen? Von Jakob heißt es: Und Gott ließ sich erbitten und Rebekka ward schwanger. Am Anfang des Lebens, auch unseres Lebens, steht immer, dass Gott sich erbitten lässt: Dein und mein Leben ist Geschenk. Nicht Selbstverständlichkeit und keine Notwendigkeit, kein Zufall. Am Anfang steht das Staunen, dass etwas Einmaliges aus dem Nichts heraus geschaffen wird: Ich lebe, ich darf mich am Geschenk des Lebens erfreuen!

Rebekka trägt sogar zwei Kinder in ihrem Leib und noch vor der Geburt beginnt der Kampf ums Überleben, die Konkurrenz um die wenigen Ressourcen. Nicht immer überleben beide Kinder einer Zwillingschwangerschaft. Der Kampf macht Rebekka Angst und sie sucht Hilfe im Tempel bei einem Orakel. Angst und Sorge um die Kinder im Mutterleib haben viele Eltern. Sie sind nicht weniger geworden durch die pränatale Diagnostik. Wohin sind unsere Mütter und unsere Väter mit ihren Ängsten und Sorgen gegangen? Ich weiß, dass meine Mutter in der Schlussphase der Schwangerschaft ihre eigene Mutter verloren hat, an der sie sehr hing. Die Trauer hat ihr Leben so sehr verdüstert, dass Verwandte und Freunde Angst um sie und mich hatten und immer wieder sagten: „Sei doch nicht so traurig Herta, das ist nicht gut für das Kind." Wen wundert es, dass eines meiner ersten Worte „traubisch" war. Und trotzdem bin ich ein fröhlicher Mensch geworden. Die frühen Prägungen, die wir alle durch unsere Mütter erfahren haben, stellen nicht für immer Weichen, auch wenn sie nicht ohne Folgen bleiben.

Rebekka erfährt im Orakel des Tempels eine Antwort für ihre Frage, die ihr Leben und das ihrer Söhne entscheidend prägen wird: „Und der HERR sprach zu ihr: Zwei Völker sind in deinem Leibe, und zweierlei Volk wird sich scheiden aus deinem Leibe; und ein Volk wird dem andern überlegen sein, und der Ältere wird dem Jüngeren dienen." Wie wäre das Leben der Zwillinge wohl ohne dieses Orakel verlaufen? Die Mutter wird alles tun, um seine Erfüllung zu ermöglichen. Mit verhängnisvollen Folgen für die Familie. Sind wir ohne Orakel groß geworden? In der Zeit meiner Kindheit wollten alle Eltern, dass es ihren Kindern mal besser gehen soll. Dass sie etwas Besseres werden als sie selbst, auf der gesellschaftlichen Hierarchieleiter nach oben klettern. Über Jahrhunderte wurde aus den Kindern das, was ihre Eltern waren. Jetzt sollte es mehr, Höheres sein. Auch das ist ein Orakel. Aber vielleicht gab es über eurem Leben ganz andere Orakel, die ihr erfüllen solltet.

Wie haben unsere Mütter unser Leben geprägt mit ihren Erwartungen, Befürchtungen und Hoffnungen? Aber das ist ja nur die eine Richtung der Frage. Denn die andere ist: Wie haben wir als Mütter und Väter unsere Kinder geprägt mit dem, was wir in ihnen sahen – oder auch nicht sahen? Und wie viel davon haben wir mitgebracht aus unserer eigenen Kindheit? Die Generation der Kriegs- und Nachkriegskinder hat eine andere Prägung erfahren als wir Kinder der späten Fünfziger und Sechziger Jahre. In meiner Kindheit war noch der Schrecken des Krieges in den Alpträumen meines Vaters präsent. Die Erfahrung von Hunger und Not hat den Umgang mit den Nahrungsmitteln und den Dingen des Alltages geprägt. Die Erziehung hatte noch etwas Militärisches, Gehorsam und Respekt wurde von Kindern verlangt, der Erziehungsalltag war nicht frei von Gewalt der Erwachsenen gegen Kinder. Am Tisch hatten die Kinder zu schweigen und durften nur reden, wenn sie dazu aufgefordert wurden. Wir sind Kinder Gottes, wir sind Kinder unserer Eltern und wir sind Kinder der Zeit, in der unsere Eltern uns bekamen. Nichts davon haben wir uns ausgesucht. Dass wir sind, wer wir sind, was uns prägte: All das haben wir zunächst einmal mitbekommen, als Erbe und Last gleichermaßen – das können wir an der Geschichte Jakobs und seines älteren Bruders Esau wie in einem Spiegel sehen.
Das fängt beim Äußeren an, ja schon bei der Geschwisterfolge: Esau wird als Erster geboren und das bedeutet in einer Zeit: Er wird das Erbe des Vaters antreten, wird der Chef der Familie, der Sippe. Weil er zuerst in den Geburtskanal gerutscht ist. Genau so wenig haben wir uns ausgesucht, ob wir mit oder ohne Geschwister aufwuchsen, die Älteste, die Jüngste oder der Sandwich waren. Aber es hat unser Leben entscheidend geprägt.

Esau ist rötlich, behaart, rau wie ein Fell. Sein Name bedeutet „behaart", rötlich, behaart, rau – eine Überfülle früh entwickelter Männlichkeit. Jakob klammert sich an die Ferse seines Bruders, als er geboren wird. Übersetzt bedeutet sein Name „Gott möge schützen", aber die Besonderheit seiner Geburt führt dazu, dass andere Jakob mit „Fersenhalter" oder „der Listige" übersetzen. Er lässt sich von seinem Bruder aus dem Mutterleib ziehen und dieser Ruf, alleine nicht zurecht zu kommen, hängt ihm fortan an. Unser Aussehen und unsere Namen: Erbe und Last, in jedem Fall mitgegeben von unseren Eltern. Wesentlicher Teil unserer Identität, den wir annehmen, ablehnen, ertragen, erkämpfen mussten. Aber kaum ablegbar. Und wenn, um welchen Preis: Namensänderungen und Schönheitsoperationen sind nicht mehr ausgeschlossen. Wir können uns zu denen machen, die wir sein wollen. Der Kampf mit dem eigenen Namen, mit der Figur, der Nase, dem Kinn, der Brust, dem Po ist ein Teil unserer Selbstfindung. Jakob wird seinen Namen einmal ändern – aber davon später.

Über Kindheit und Jugend wird mit einem knappen Satz berichtet: „Und als nun die Knaben groß wurden, wurde Esau ein Jäger und streifte auf dem Felde umher, Jakob aber ein gesitteter Mann und blieb bei den Zelten." Warum und wodurch wurden sie so, wie es hier beschrieben wird? So grundverschieden – bei gleichen Eltern? Der Kämpfer, der Jäger, der wilde Mann auf der einen Seite. Der Gebildete, Gesittete, der Weise auf der anderen Seite. Warum entfaltet jeder von ihnen nur seine eine Seite – und nicht auch die andere Seite? Es ist nicht lange her, da hat der Mainstream diese Frage klar beantwortet: Alles Erziehung und Prägung der Umwelt. Sie werden so, wie sie sein sollen. Inzwischen sind viele vorsichtiger mit ihrer Antwort. Wer Kinder aufwachsen sieht, wundert sich, dass in dem einen Kind von Anfang der kleine Esau aufleuchtet, der Jäger und Kämpfer. In dem anderen aber der kleine Denker, der Gelehrte, der Weise sich schon früh in Neugier und Fragen und einer ganz anderen Art, zu spielen, zeigt. Wir sind nicht nur die, zu denen wir gemacht wurden, sondern werden auch zu denen, die wir im Verborgenen schon immer sind. Aber was für eine spannende Frage: Hätte aus Jakob auch der Jäger werden können und aus Esau der Kultivierte, der Denker? Warum bin ich der geworden, der ich bin, die geworden, die ich bin? An welcher Stelle habe ich mich entschieden, bin einem inneren Ruf gefolgt, habe die andere Richtung ausgeschlagen? Wie bin ich geworden, der ich bin? Wie bin ich geworden, die ich bin: Das ist eine der spannenden Fragen, die diese Geschichte uns stellt!

Dass andere daran wesentlich Anteil hatten, Mutter und Vater zuerst, steht außer Frage, das weiß schon die Bibel, lange vor der wissenschaftlichen Erforschung dieser Fragen in Pädagogik und Psychologie: „Und Isaak hatte Esau lieb und aß gern von seinem Wildbret; Rebekka aber hatte Jakob lieb." Der Mann liebt Esau, den Männlichen, sein Abbild, die Frau, den eher weiblichen Jakob, ihr Abbild. Muss das so sein, dass wir auch bei unseren Kindern nur lieben können, was uns vertraut ist? Dieser Satz führt wieder zu uns und unserer Geschichte: wie war das mit der Liebe unserer Eltern? War sie bedingungslos, gerecht, nahm auch das Fremde, Andere, vielleicht sogar Erschreckende in uns an? Und wie war es dann oder wie ist es bei unseren eigenen Kindern und uns? Da lesen zum Beispiel beide Eltern mit – seit der Kindheit mit Begeisterung und stellen irgendwann verstört fest, dass ihr Kind keine Zeile liest – außer dem, was es für Schule oder Studium lesen muss. Was macht es mit uns und unserer Liebe zu unseren Kindern, wenn sie sich so ganz anders entwickeln, als wir gedacht hatten? Wo Geschwister da sind, kommt der Konkurrenzkampf um die Liebe dazu. Wir waren Zuhause drei Kinder. Meine älteste Schwester hatte es am schwersten – sie bekam noch die volle Härte der Erziehung zu spüren. Den Jungen ließen meine Eltern meist ziehen, ohne groß zu fragen. Und das Nesthäkchen, die Jüngste, hatte Freiheiten, über die wir Ältere nur staunen konnten. Weil den Eltern schlicht die Kraft zur Erziehung fehlte, die sie bei uns noch hatten. Sicher liebten sie uns alle drei. Aber die Liebe hatte schon eine jeweils eigene Färbung, die wir wahrnehmen konnten. Wenn ich eigene Wege ging, ihre Erwartungen und Vorstellungen enttäuschte, hatte ich Angst vor der Begegnung mit meinem Vater, noch weit bis ins Studium hinein. Vor seinem Unverständnis, seinem Urteil, seiner Enttäuschung. Meine theologischen Wege waren ihm Irrwege. Und so war ich oft nicht innerlich frei, meine Wege zu gehen, vorgezeichnete Wege zu verlassen. Die Liebe der Eltern war eine Leine, deren Länge deutlich zu spüren war.
Rebecca und Isaak haben ihre Kinder jeweils lieb, weil sie ihren Vorstellungen entsprechen und sie sich in den vorgezeichneten Bahnen entwickeln. So, wie viele Eltern.

Die Gegengeschichte dazu hat Jesus erzählt. Von einem Vater, dessen jüngster Sohn mit allem bricht, alle Erwartungen enttäuscht und sein Erbe in der Fremde verschleudert. Aber das ändert überraschenderweise an der Liebe dieses Vaters nichts: Der Vater verflucht ihn nicht, er verstößt ihn nicht, sondern er steht jeden Abend vor dem Tor seines Besitzes und hält Ausschau, ob der Verlorene nicht endlich heimkehrt. Jeden Abend, über Jahre, treiben ihn die Trauer um den Verlust des Sohnes und die Sehnsucht nach ihm vor die Tür. Bis dieser wieder vor ihm steht, in einem Zustand, der bei jedem anderen Menschen Widerwillen, Ekel und Abwehr ausgelöst hätte. Aber sein Vater schließt ihn weinend in die Arme und feiert ein großes Fest zu seiner Rückkehr.

Wie immer unsere Eltern waren, welche Grenze auch ihre Liebe hatte: So, wie dieser Vater, ist Gott. Seine Liebe hält unser Anderssein, unsere Aufbrüche in die Freiheit, unsere Irrwege und unser Scheitern aus. Er steht gewissermaßen jeden Tag mit ausgebreitet Armen vor der Tür und wartet auf uns – in welchem Zustand und woher wir auch immer zu ihm kommen. Er wird uns in die Arme schließen, wenn wir zu ihm kommen.

Bei Gott bin ich geborgen, still, wie ein Kind – bei ihm ist Trost und Heil. Ja, hin zu Gott verzehrt sich meine Seele, kehrt in Frieden ein.
Amen