Predigten

Predigten über Jakob-Teil 2

Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis
Predigttext: 1. Mose 27,1-45, 28, 10-19, Jugend zwischen Anpassung und Rebellion
Prediger: Pfr. Andreas Friede-Majewski


Liebe Gemeinde,

wir haben vergangenen Sonntag in der Predigtreihe über Jakob seine Geburt und seine Kindheit verfolgt. Sein erstes Haus ist gebaut, das Haus der Herkunft, seine Gaben und Schwächen sind angelegt, das Orakel seiner Eltern über sein Leben ist gesprochen.
Die Jugend ist die Zeit der zweiten Chance, in der wir aus unserem Erbe etwas machen, etwas Eigenes – oder aber in die vorgegebenen Fußstapfen treten. Letzteres ist in Jakobs Zeit vor mehr als 3000 Jahren das Selbstverständliche und Erwartete: Dass sich ein Kind in sein Schicksal fügt, den von den Eltern und der Tradition vorbestimmten Weg einschlägt, sich anpasst: Die Zukunft der Kinder ist die Vergangenheit der Eltern gewissermaßen.
Aber nicht bei Jakob. Jakob ist in einer Zeit ohne Rebellen der Rebell. Er passt sich nicht an, nimmt nicht hin, sondern stellt die traditionelle Ordnung des Geburtsrechtes auf den Kopf. Als sein Bruder ausgehungert von der Jagd kommt, kauft er ihm für ein Linsengericht sein Erstgeburtsrecht ab. Er erpresst den eigenen Bruder ohne jeden Skrupel. Esau scheint das nicht ernst genommen zu haben. Warum auch? Wenn der Vater sterben würde, könnte Jakob dann etwa auf sein Recht aufs Erbe pochen? Konnte er in der Familie und im Stamm auftreten und sagen, er habe das Erstgeburtsrecht für einen Teller Linsensuppe gekauft? Lächerlich – niemand hätte ihn ernst genommen und deshalb nimmt Esau den Handel nicht ernst – was ein großer Fehler ist, wie sich zeigen wird. Er erkennt nicht die Entschlossenheit und die kriminelle Energie seines Bruders, der die bestehende Ordnung nicht anerkennt und sich mit Gewalt holen will, was Tradition und Ordnung ihm verweigern.

Welchen Weg habt ihr als Jugendliche eingeschlagen – oder welchen werdet ihr Konfis einschlagen: Den Esauweg der Anpassung oder den Jakobweg der Rebellion? Welche Wege waren vorgezeichnet und welche seid ihr gegangen?
Zum Rebellentum gehört ein großes Stück Größenwahn: Ich kann und will es besser machen! Die Welt gehört mir, sie hat auf mich gewartet! Ich lasse mich nicht an die kurze Leine legen, von niemand! Zum Rebellentum gehört die Härte, die Erwartungen der Familie zu enttäuschen und nahestehende Menschen zu verletzten. Rebellieren kann man nicht in Harmonie und Frieden, ganz lieb und brav. Der Rebell riskiert den Bruch mit seiner Herkunftsfamilie um seiner Zukunft und um seiner Freiheit willen.

In meiner Generation war das Rebellieren ja groß in Mode. Das fing bei der Musik an – Affenmusik sagte meine Oma dazu. Das drückte sich in den langen Haaren, den Jeans und T-Shirts, in denen wir ausschließlich rumliefen, aus und in den politischen Einstellungen. Nahezu jeder war links – es war allenfalls eine Frage, wie links. Die Zukunft würde sozialistisch sein oder es gäbe keine Zukunft. Der politische Protest, die Teilnahme an Demonstrationen, 1. Maifeiern, Menschenketten, Blockaden, all das war Pflichtprogramm. Wir wollten keine Karriere machen, aber die Welt retten und dazu ihre Ordnung auf den Kopf stellen. Aber ich war eher ein äußerlicher Rebell – um ein Jakob zu werden, war ich viel zu stark auf Harmonie aus. Mit den Eltern brechen, egal weswegen, war undenkbar. Sie enttäuschen, sie gar verletzten, tat mir wahrscheinlich selbst mehr weh, als ihnen. Nein, ich war sicher eher ein Esau mit dem Rebellenäußeren des Jakob. Ja, wer steckte und steckt in euch – mehr Esau, oder mehr Jakob?

Jakob treibt sein Rebellentum auf die Spitze. Er betrügt mit Hilfe seiner Mutter den eigenen Vater. Er nutzt die Sehschwäche des Vaters gnadenlos aus. Er macht sich die Liebe der Mutter skrupellos zu nutze. Er nimmt seinem Bruder ohne Hemmungen das, was ihm zu steht. Niemand aus der Familie stellt sich ihm in den Weg, setzt ihm Grenzen. Alle spielen dieses ruchlose Spiel mit.
Wie blind muss Isaak eigentlich sein, dass er auf die List seines Sohnes und seiner Frau hereinfällt? Warum traut er nicht seinem Gehör, dass Jakobs Stimme hört, warum nicht seinem Geruchssinn? Was für ein Grobmotoriker muss er sein, wenn er eine behaarte Menschenhand nicht von einem Ziegenfell unterscheiden kann? Gerade Blinde entwickeln ja ihren Geruchs-, Tast- und Hörsinn um so stärker. Nein, der alte, müde Patriarch lässt sich betrügen, spielt in einem abgekarteten Spiel mit. Er kann und will nicht glauben, dass einer seiner Söhne ihn auf dem Sterbebett betrügt. So lässt er Jakob einfach gewähren.

Noch viel blinder als er ist seine Frau. Sie ist blind vor Liebe zu ihrem Sohn und sieht nicht, wozu sie ihn anstiftet, was sie deckt. Sie sieht das Böse, das Rücksichtslose, an ihrem Sohn nicht und fördert es noch. Manchmal ist das so mit Eltern: Dass sie nicht sehen wollen, wie ihre Kinder sich entwickeln. Dass ihre Liebe alles versteht, grenzenlos ist, hemmungslos, alles duldet und erträgt und gutheißt. Anstatt nein zu sagen, anstatt Grenzen zu setzen, den Konflikt zu wagen, die Anstrengung einer Auseinandersetzung auf sich zu nehmen. Weil sie meinen, sie tun ihren Kindern etwas Gutes. Ich fürchte, Eltern wie Issak und Rebekka gibt es heute häufiger als je zu vor. Das ist eine Katastrophe für die Kinder und für die Gesellschaft: Wo Eltern an dieser Stelle versagt haben, ist es unglaublich schwer, in der Schule, in Betrieben und Firmen, durch Sozialarbeiter und Polizei gegen zu steuern. Issak und Rebekka versagen als Eltern und tragen Mitverantwortung, dass das Rebellentum ihres Sohnes kriminell und asozial entgleist.

Das ist die Gefährdung jedes Rebellen: Dass er über seinem Kampf für die Freiheit die Freiheit anderer Menschen verletzt. Dass er seinen Freiheitskampf über Recht und Gesetz stellt, mit Gewalt die bestehende Ordnung bekämpft, kriminell wird. In meiner Generation hat das die rote Armee Fraktion, die RAF und andere terroristische Vereinigungen hervorgebracht. Heute konvertieren junge Menschen zum Islam oder radikalisieren sich und morden für ihre religiösen Überzeugungen. Aus dem Gefühl moralischer Überlegenheit, dem Recht des eigenen Anspruches, übertritt der Rebell alle Grenzen.
Die Gefährdung spricht nicht gegen die rebellische Seite der Jugend. Ohne diese Seite menschlicher Entwicklung gäbe es nur Stillstand, keine Aufbrüche, kein Neuland, keine gesellschaftliche Entwicklung. Ohne die Rebellen wie Jakob lebten wir alle noch in der Steinzeit und hätten Fellröckchen an.

Vielleicht hat Issak das gespürt. Vielleicht hat er Esau nicht zugetraut, seine Familie, seine Sippe in die Zukunft zu führen. Denn dazu gehört mehr als ein wenig Jagen können, gehört mehr als Muskeln und Instinkt und Anpassung. Wer nie aufbricht, Neues wagt, etwas Eigenes verwirklicht, dem fehlt eine wesentliche Seite des Lebens. Das ist die Gefährdung der Angepassten. Sie verpassen das Leben und sie setzen die Zukunft aufs Spiel. Denn Leben ist Veränderung, Aufbruch, Weiterentwicklung. Oder Untergang. Heute noch viel stärker als zu Jakobs und Esaus Zeiten. Ein Mensch mit der Schul- und Berufsausbildung meines Vaters, einem Hauptschulabschluss, wäre heute weitgehend verloren. Ohne Aufbrüche, Neuanfänge, Neugier, Weiterentwicklung werdet ihr, die ihr Konfis seid, in der heutigen Welt nicht bestehen können. Ihr könnt euch nicht mehr zwischen Esau und Jakob entscheiden – ihr müsst immer ein wenig wie Jakob sein.
Weder Jakob noch seine Mutter haben die Rebellion zu Ende gedacht. Dachten sie wirklich, Esau würde sich mit dem Betrug abfinden, seine Niederlage hinnehmen? Da hatten sie die Kräfte der Beharrung aber unterschätzt – wie so mancher Rebell. Als der Betrug auffliegt, will Esau seinem Bruder an den Kragen. Der Bruder hat die familiären Bande zerschnitten, die Ordnung der Gemeinschaft zerstört: Jetzt kann ihn diese Ordnung nicht mehr schützen. Er muss fliehen, die Gemeinschaft verlassen oder er wird sterben.

Das ist der Preis der Rebellion. Die soziale Gemeinschaft wehrt sich, schlägt zurück. Oft unmäßig, brutal, grenzenlos. Aber ich kann nicht Rebellion machen und dann weiter kuscheln. Ich kann nicht Erwartungen enttäuschen, meinen eigenen Weg gehen, Eltern und Geschwister verletzten und auf Verständnis hoffen. Rebellion macht erst mal einsam: Ich muss dann auch meine eigenen Wege gehen und das sind meistens keine angenehmen, geebneten Wege. Jakob muss in die Wüste und ins Gebirge fliehen. Er ist vollkommen allein auf sich gestellt und hat tausende Kilometer in lebensfeindlichen Landschaften vor sich. Das ist der Preis, den er zahlt. Diesen Preis haben vor und nach ihm viele Pioniere, Rebellen, Abenteurer und Freiheitssucher bezahlt. Wer diesen Weg einschlägt, muss sich durchbeißen.
Viele Jugendliche versuchen es stattdessen damit, King-baby zu spielen. Sie wollen so frei und unabhängig sein wie ein King, haben eine große Klappe und lassen sich nichts sagen. Gleichzeitig bleiben sie wie ein Baby von den Eltern abhängig, wollen Zuhause wohnen, die Eltern sollen ihre Freiheit bezahlen und wenn irgendetwas anbrennt, sollen es die Eltern richten. Das kann für eine Übergangsphase funktionieren – auf Dauer ist es krank. Denn der Preis des Erwachsenseins ist die Verantwortung und das Risiko für mein Leben.

Als Jakob aufbricht, hat er alles verloren, was er hatte. Seine Familie, den Schutz der Sippe, seinen Besitz, seine soziale Stellung, alles. Es bleibt ihm nur sein nacktes Leben und die Freiheit, die er immer wollte. So flieht er, der Betrüger, der gescheiterte Rebell, der Asoziale, ins Gebirge. Er muss unter freiem Himmel schlafen, einen Stein unter dem Kopf. In der ersten Nacht träumt er. Nicht von einer Leiter, wie die Lutherübersetzung schreibt. Sondern von einer Himmelstreppe. Von einem gewaltigen Tempelturm, wie sie die Babylonier bauten, der Himmel und Erde verbindet und über dessen Treppen die Engel herab und herauf steigen. Ganz oben aber steht der Ewige, der Gott Abrahams und Isaaks, der Gott seiner Väter und segnet ihn: „Und siehe ich bin mit dir und will dich behüten, wohin du ziehst!" Jakob hat alles verloren – aber nicht den Gott seiner Väter. Nicht den Segen, den Schutz, die Begleitung. Gott segnet den Rebellen, den Betrüger, den Gewissenlosen. Er segnet nicht die Rebellion, den Betrug, die Gewissenslosigkeit. Er segnet sein Kind, den Gottessohn, das Königskind in Jakob. Diese Würde ist unverlierbar, unzerstörbar. Manchmal werden wir uns dieser Würde erst bewusst, wenn wir alles andere verloren haben. Wenn wir ganz unten sind. Wenn alle anderen uns verlassen haben. Ja, es sind oft die Grenzsituation menschlichen Lebens, die Tiefen, in denen Menschen – so wie Jakob hier in seinem Traum – die Nähe Gottes erfahren. Solche Träume, solche Gotteserfahrungen, verändern, sind unverlierbar. Jakob, die Welt, sein Gottesbild ist danach nicht mehr dasselbe. Er weiß, dass er in seinem Aufbruch nicht auf sich gestellt ist. Er ist behütet.

Der Rebell gegen jede Ordnung erwacht voller Furcht und Ehrfurcht. Er richtet einen Stein auf, baut einen primitiven Tempel als Zeichen seiner Unterwerfung unter die Macht, die ihm dort begegnet ist und benennt den Ort: Beit El. Haus Els. Haus Gottes, lesen wir heute, denn „El" ist einer der alten Götternamen aus den Vätergeschichten. Jakob hat sein Vaterhaus verloren, aber Gottes Haus gefunden.
Wenn Aufbrüche so enden, kann alles gut werden. Wenn Ausbrüche und Aufbrüche begleitete Aufbrüche werden, gesegnete. Das ist euch, den Konfis, die ihr eure Aufbrüche noch vor euch habt, zu wünschen: Dass sie von Erfahrungen der Nähe Gottes begleitet sind, eure Fluchten und Irrwege bei ihm enden, in einem seiner vielen Häuser. Dass ihr, was und wie viel ihr in eurem Leben auch verliert, diese Gewissheit nie verliert: „So spricht Gott zu mir: Ich bin mit dir und will dich behüten, wohin du auch gehst.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.
Amen