Predigten

Predigten über Jakob-Teil 4

Predigt am 14. Sonntag nach Trinitatis
Predigttext: 1. Mose 32/33 Jakob 4 - Grenzen erfahren - Gott finden
Prediger: Pfr. Andreas Friede-Majewski


Liebe Gemeinde,

wir haben Jakob vor einer Woche in der letzten Predigt verlassen, als er als gemachter Mann und Führer einer neuen Sippe seinen Onkel verlassen hat. Jakob bricht einmal mehr auf – aber wohin wird er gehen, wohin zieht es ihn? Es zieht ihn zurück zu seiner Ursprungsfamilie, zu seinem Bruder. All die Jahre weit weg von Esau, von der Heimat, haben ihn nicht vergessen lassen, woher er kommt und was geschehen ist – die Vergangenheit liegt immer noch als Schatten über seinem Leben. Er ist damals davon gelaufen, jetzt kehrt er zurück, um zu Ende zu bringen, abzuschließen, gut zu machen, sich aus zu söhnen mit seinem Bruder.
So wie Jakob geht es vielen Menschen. Wir werden unsere Vergangenheit schwer los. Je älter wir werden, umso stärker spüren wir die Brüche und Verwerfungen unseres Lebens, umso mehr wächst die Sehnsucht, in Ordnung zu bringen, was in Unordnung ist. Ich habe im Gefängnis erwachsene Männer darüber weinen sehen, weil sie keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern hatten. Eltern, die ihnen manchmal Schlimmes angetan hatten, von denen sie immer nur Gewalt und Missachtung erfahren haben. Aber es blieben ihre Eltern, es blieb die Sehnsucht nach ihrer Liebe, ihrer Anerkennung. Frauen, die von ihren Vätern missbraucht worden waren, litten am meisten darunter, dass ihre Anzeigen dieser Taten die Familie zerstört hatte. Die Sehnsucht nach einer heilen, intakten Familie, lässt sich durch berufliche Erfolge, durch Erfüllung eigener Lebensträume, durch die Gründung einer eigenen Familie und einen großen Freundeskreis anscheinend nicht stillen. Der Schlussstrich, das sich aus dem Wege gehen, den Kontakt endgültig abbrechen, gelingt selten – und wenn, ist der Preis hoch. Die Wunde bleibt oft, selbst wenn es keinen Weg zurück gibt. Meist aber ändert sich das Verhältnis zur Herkunftsfamilie auch bei denen, die als Rebellen ausgezogen sind, wenn sie eigene Kinder haben, selbst Eltern sind, endgültig angekommen sind im Erwachsensein. Mein Ausbilder in der Seelsorge hat einmal dazu gesagt: „Erwachsen ist ein Mensch, wenn er etwas will, tut oder anstrebt, obwohl die eigenen Eltern das gut heißen." Wie war das für euch Erwachsene, als ihr eigene Kinder bekommen habt – was hat sich verändert im Verhältnis zu den eigenen Eltern, den Geschwistern? Welche Brüche gibt es vielleicht noch, weil ihr keine Wege gefunden habt zu Klärungen, zur Rückkehr, zum Frieden schließen?

Jakob kehrt zurück und je näher er dem Bruder kommt, umso größer wird die Angst vor ihm. Er schickt Kundschafter aus und als sie ihm melden, dass sein Bruder ihm mit 400 Mann entgegen kommt, werden seine schlimmsten Ahnungen wahr. Man kommt nicht mit 400 Mann, um Frieden zu schließen, oder? Jakob trifft Sicherheitsvorkehrungen: Er teilt seinen Besitz und seine Männer in zwei Lager, damit nicht alles vernichtet wird im Fall einer Niederlage. Er schickt große Viehherden als Versöhnungsgeschenke vor sich her – das entspricht abendländischem Brauch: Großzügige Geschenke sind in erster Linie das Eingeständnis von Schuld. Man schickt so viel, dass der Gegner diese Großzügigkeit zurückweisen muss, um nicht beschämt da zu stehen. Jakob, der damals seinen Bruder um alles gebracht hat, zeigt mit jeder Viehherde, die er schickt: Ich bin ein anderer geworden. Habe ich damals nur genommen, will ich jetzt geben, ausgleichen, Frieden finden.

Ich bewundere Jakob für diesen weitreichenden Schritt. Er steht zu seiner Vergangenheit, er schmälert seine Schuld nicht, relativiert und beschönt nichts: Er bekennt sich ohne Abstriche schuldig. Er weiß, dass er nur so Frieden und Versöhnung finden kann. Ausreden gäbe es viele: Ich war doch noch so jung! Die Mutter hat mich damals aufgestachelt und verführt! Es ist doch alles so lange her und ich habe viele Jahre dafür gebüßt. Esau und Vater haben es mir doch leicht gemacht, sie zu betrügen. Nichts dergleichen: Nur „Ich habe falsch gehandelt – verzeih mir! Nimm mein Versöhnungsangebot an!"
Das ist wirkliche Größe: Wenn wir zu unserer Schuld stehen und um Vergebung bitten können, bereit sind zur Sühne, den Preis der Schuld zu zahlen. Wenn wir uns hinter niemand und nichts verstecken, sondern für uns selbst einstehen. Gerade dort, wo wir falsch gehandelt haben. Gerade dort, wo wir schuldig wurden.
Es ist der einzige Weg zu wirklicher Versöhnung. Mag sein, dass der andere, der Bruder, die Schwester, der Vater, die Mutter auch Schuld auf sich geladen haben. Dann gibt es trotzdem kein Geschäft mit der Schuld, keinen Deal nach dem Motto: Ich entschuldige mich nur, wenn du dich entschuldigst. Wirkliche Reue sieht anders aus, ist absolut bedingungslos. Weil es nicht um den anderen geht, sondern um mich: Ich war nicht so, wie ich sein sollte, habe nicht gehandelt, wie es richtig und gut ist – nur das kann ich klären, nur das liegt bei mir. Jakob weiß bis zum letzten Moment nicht, ob Esau ihm vergeben wird. Er hat keinen Anspruch auf Vergebung, er kann nur auf Vergebung hoffen.
Wenn es etwas in eurem Leben zu klären gibt, dann geht diesen Weg, den Jakob gegangen ist. So schwer es ist, sich und anderen einzugestehen, dass man schuldig wurde. Als Tochter, als Bruder, als Schwester, als Mutter, als Freund oder Freundin, als Ehefrau, Ehemann. Nichts ist schwerer. Aber nichts ist auch befreiender, als diesen Weg zu gehen.
Am Vorabend der Begegnung bringt Jakob alle über den Fluss, der ihn noch von seinem Bruder trennt. Nur er bleibt allein auf der anderen Seite in dieser Nacht zurück. Warum? Die Bibel schweigt dazu. Ich ahne: Noch will Jakob sich den Rückzug offen halten. Geht er jetzt weiter, gibt er sich und sein Leben in des Bruders Hand. Dann rettet ihn nichts und niemand mehr, schlägt der Bruder die Versöhnung aus. Noch kann Jakob fliehen, einmal mehr alles zurücklassen, Besitz, Familie, Frauen dem Bruder überlassen und noch einmal nur das nackte Leben retten. Wieder vor der Konsequenz seiner ruchlosen Tat davonlaufen. Jakob kämpft mit sich, mit seiner Angst, mit seiner Vergangenheit, mit dem, der er einmal war.

Die Geschichte, die von diesem Kampf erzählt, ist eine seltsame Geschichte. Jakob ringt mit einem Mann ohne Namen. Wir erfahren nichts von ihm. In den alten Geschichten werden die Flussfurten von Dämonen bewacht, die überwunden werden müssen. Aber in der biblischen Erzählung ist es ein Mensch, ein unbekannter. Jakob ringt die ganze Nacht mit ihm, ein stummer, verzweifelter, aussichtsloser Kampf ohne Sieger, bis zur Erschöpfung, bis zum Morgengrauen. Der Mann hat Angst vor der Morgenröte. Hier leuchtet noch der Dämon durch, den Dämonen der Nacht vergehen als Nachtgeschöpfe wie Vampire beim ersten Sonnenstrahl. Aber Jakob hält ihn fest, will den erbitterten Gegner zwingen, ihn zu segnen. Der Segen besteht in einem neuen Namen, einer neuen Identität: Aus Jakob, dem Listigen, wird Israel, der Gotteskämpfer. „Denn du hast mit Gott und den Menschen gekämpft und gewonnen." Dann segnet ihn der Namenlose, der namenlos bleibt. Einen neuen Namen und eine bleibende Verletzung trägt Jakob aus diesem Kampf davon. Er hinkt, weil seine Hüfte verrenkt ist und nie mehr heilen wird.
Wer ist der nächtliche Kämpfer? Gott selbst – das wäre für uns ein seltsames Gottesbild, eher passend zu griechischen Göttersagen. Esau, der Bruder, der ihm alleine aufgelauert hat? Ein Flussdämon, eine dunkle Macht? Sein eigener dunkler, innerer Bruder, der ihm in dieser Nacht auflauert, sich einen verzweifelten letzten Kampf mit ihm liefert, Jakob gegen Israel gewissermaßen, der Rebell gegen den reuigen Heimkehrer? Ist es ein Zusammenschnurren all der Kämpfe vieler Jahre, in denen Jakob immer wieder gegen die göttliche Ordnung, gegen ihre Repräsentanten, den Vater, den großen Bruder, den Onkel gekämpft hat und sich nicht hat unterkriegen lassen?
An allen Antworten ist etwas dran. Vielleicht ist es gut, dass das Geheimnis dieser Geschichte gewahrt bleibt, es keine eine Antwort gibt. Wichtig ist nur: Es ist ein Kampf, in dem Jakob sich endgültig erneuert, zu sich selbst findet, den Listigen hinter sich lässt. Am Körper verletzt, aber mit einer neuen Identität tritt er seinem Bruder entgegen. Nicht Jakob kehrt zurück, sondern Israel. Jakob wäre wieder geflohen. Israel zieht vor seiner Familie her auf seinen Bruder zu, gibt sich selbst und seine Familie vollkommen in die Hand des Bruders. Er musste nicht der bleiben, der er immer war, der er geworden war. Neuanfangen ist möglich. Darum geht es. Wir sind nicht die, die wir sind und immer waren, einmal geprägt, festgelegt, einmal Betrüger, immer Betrüger. Nein, die äußeren und inneren Kämpfe des Lebens sollen uns neu machen, zu geraden, aufrechten Menschen, die mit Gott und den Menschen kämpfen, zu Gotteskämpfern wie Jakob. Die friedensfähig sind. Die sich in Gottes Hand wissen, komme, was da wolle. Die für Fehler gerade stehen. Die als Gesegnete durchs Leben gehen wollen und um Gottes und der Menschen Segen ringen.

Wen siehst du, wenn du zurück schaust in dein Leben? Wie viel von dem, den du siehst, bist du noch – wie viel Jakob? Und wie viel Israel, durch all die Lebenskämpfe? Kannst du den, der du warst, die, die du warst, mit Liebe anschauen, mit Verständnis? Aber auch ehrlich seine, ihre Schwächen sehen, Schuld bekennen? Wie hat die Arbeit, die Familie, das Alter euch verändert, die Lebenskämpfe, die damit verbunden waren, euch gereift, eine neue Identität geschenkt?
Jakob hinkt in den neuen Morgen. Er verlässt nicht als Sieger das Kampffeld, aber als Gesegneter. „Jakob hob seine Augen auf und sah seinen Bruder." Der eine Kampf ist kaum vorbei, da steht der nächste bevor. Der Kampf, vor dem er so abgrundtiefe Angst hatte, dass er meinte, Gott an sein Versprechen erinnern zu müssen, ihn zu beschützen. Aber die Angst ist wohl im nächtlichen Kampf besiegt worden. Jakob geht dem Bruder entgegen, er neigt sich vor ihm, sein Eingeständnis der Schuld und Zeichen der Unterwerfung. Der Rebell unterwirft sich. Der keine Ordnung hat gelten lassen, ordnet sich unter. Er zeigt darin seine wahre Größe, zu der er herangereift ist. Bis dann das geschieht, was er sich immer ersehnt hat, aber woran er nie geglaubt hat: „Esau aber lief ihm entgegen und herzte ihn und fiel ihm um den Hals und küsste ihn und sie weinten." Sie weinten. Über sich selbst, die verlorenen Jahre, die Wunden, die sie sich zugefügt haben. Tränen der Reue. Tränen der Erleichterung. Tränen der Versöhnung. Tränen der Freude, endlich Frieden gefunden zu haben.

Hat Jakob/Israel sich so in seinem Bruder getäuscht? Hat er ein Heer gesehen, wo kein Heer war? Hat er Hass gesehen, wo kein Hass war? Oder besinnt sich Esau eines Besseren, als er die Reue des Bruders sieht, seinen Friedenswillen, seine Großzügigkeit, seine Aufrichtigkeit? Die Bibel lässt die Antworten auf diese Fragen offen. Nicht nur wir sind nicht, wie wir sind. Sondern immer auch anders, voller Entwicklungsmöglichkeiten. Auch die Welt ist nicht so, wie sie ist. Sondern wie wir sie sehen, mit welchen Einstellungen, welcher Deutung wir ihr begegnen. Als Jakob ohne Neid, ohne Konkurrenz, ohne Egoismus auf seinen Bruder sieht und ihm so begegnet, wie er ihm begegnet, verändert er ihn, kann alles neu werden.
Nichts verändert die Welt so sehr, wie Menschen, die sich wie Jakob in Israels verändern. Wenn aus Listigen, Egomanen, Gierigen, Gotteskämpfer werden, die anderen mit Offenheit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, mit Liebe begegnen. Und mit Aufrichtigkeit – auch, wenn es um eigene Fehler, um eigenen Schuld geht.
Vor der Versöhnung mit dem Bruder steht die Versöhnung mit mir selbst, mit der eigenen Vergangenheit, mit Gott, der innere Kampf. Versöhnte Menschen können eine versöhnte Welt gestalten – im Kleinen, in den Familien, der Gemeinde, der Nachbarschaft, in Schule und Beruf. Aber auch ausstrahlend auf das Gemeinwesen, die Welt, in der wir leben, von der wir ein Teil sind.
Daran erinnert uns die Jakobsgeschichte, die hier nicht endet und in der noch viel Blut fließt, Leid und Elend geschieht. Aber davon vielleicht ein andermal. Meine Predigtreihe endet hier.

Der Frieden Gottes, diese innere Kraft der Versöhnung, die Jakob erlebt hat,
bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn und Bruder, dem Meister der Versöhnung.
Amen