Predigten

Sexagesimae

Predigt am Sonntag Sexagesimae
Predigttext: Hesekiel 2, 1-5 (6-7) 8-10; 3, 1-3
Prediger: Pfr. Andreas Friede-Majewski

 

1 Und er sprach zu mir: Du
Menschenkind, stelle dich
auf deine Füße, so will ich
mit dir reden.

2 Und als er so mit mir
redete, kam der Geist in
mich und stellte mich auf
meine Füße, und ich hörte
dem zu, der mit mir redete.

3 Und er sprach zu mir:
Du Menschenkind, ich sende
dich zu den abtrünnigen
Israeliten und zu den Völkern,
die von mir abtrünnig geworden
sind. Sie und ihre Väter haben
sich bis auf diesen heutigen '
Tag gegen mich aufgelehnt.

4 Und die Kinder, zu denen
ich dich sende, haben harte
Köpfe und verstockte Herzen.
Zu denen sollst du sagen:
»So spricht Gott der HERR!«

5 Sie gehorchen oder lassen
es – denn sie sind ein Haus
des Widerspruchs –, dennoch
sollen sie wissen, dass ein
Prophet unter ihnen gewesen ist.

8 Aber du, Menschenkind,
höre, was ich dir sage, und
widersprich nicht wie das
Haus des Widerspruchs.
Tu deinen Mund auf und
iss, was ich dir geben werde.

9 Und ich sah, und siehe,
da war eine Hand gegen
mich ausgestreckt, die
hielt eine Schriftrolle.

10 Die breitete sie aus
vor mir, und sie war außen
und innen beschrieben,
und darin stand geschrieben
Klage, Ach und Weh.

1 Und er sprach zu mir:
Du Menschenkind, iss,
was du vor dir hast!
Iss diese Schriftrolle
und geh hin und rede
zum Hause Israel!

2 Da tat ich meinen Mund
auf und er gab mir die
Rolle zu essen

3 und sprach zu mir: Du
Menschenkind, gib deinem
Bauch zu essen und fülle
dein Inneres mit dieser
Schriftrolle, die ich dir gebe.
Da aß ich sie, und sie war
in meinem Munde so süß
wie Honig.

 

Liebe Gemeinde,

Martin Buber erzählt, dass die großen Rabbiner der Chassidim den kleinen Kindern, die sie unterrichteten, Honig auf die Lehrbücher geträufelt hätten, um ihnen intuitiv mit ins Leben zu geben, dass Gottes Wort süß wie Honig ist. In die Lehre gegangen sind sie bei Gott selbst bzw. bei dem Propheten Ezechiel, den Luther Hesekiel genannt hat. „Gott möge kräftigen" bedeutet sein Name ins Deutsche übertragen. In seiner Berufungsvision, die wir als Predigttext gehört haben, gibt Gott Ezechiel eine Schriftrolle zu essen und sie wurde in seinem Munde süß wie Honig. Es ist eine besondere Rolle – die Rolle mit den Worten Gottes für sein Volk Israel. Worte der Klage, des Ach und Weh. Also so gar nichts Süßes, Schönes. Auch wenn sie auf seiner Zunge so wirkt. Aber es ist das Wort Gottes, ist wahres Wort, auch wenn es unangenehm ist und deshalb soll es Hesekiel schmecken und er soll es lieben und treu gegenüber diesem Wort sein. Hesekiel ist Priester der jüdischen Gemeinde. Aber er muss fern der Heimat leben. 597 v. Chr. wurde Jerusalem und das jüdische Südreich durch ein babylonisches Heer zerstört. Die Sieger deportieren die Elite des unterworfenen Volkes nach Babylon und siedeln sie in eigenen Dörfern dort an. Ezechiel gehört zur ersten Gruppe der Deportierten. Er muss als Priester in den neuen jüdischen Gemeinden in Gefangenschaft weitergewirkt haben. 22 Jahre wirkt er als Priester und Prophet unter der Gefangenengemeinde. Er baut eine Schülergruppe auf, die nach seinem Tod seine Worte und sein Wirken sammeln und in dem uns bekannten Buch zusammenstellen.


Was will man von seinem Priester und Propheten hören, wenn man in Gefangenschaft lebt, seine Heimat, seinen Besitz, seine Angehörigen verloren hat, ja vielleicht auch die eigene Gesundheit im Krieg draufgegangen ist? Ich nehme an, man will Tröstendes, Aufbauendes, Hoffnung Weckendes hören. Was aber legt Gott Ezechiel in den Mund: Klage, Ach und Weh. 32 Kapitel lang verweigert der Prophet das, was von ihm erwartet wird. 32 Kapitel lang benennt er die Ursachen für den Untergang und die verheerende Niederlage der Königreiche Israels. Mit drastischen Bildern führt er seinen Zuhörern vor Augen und vor Ohren, dass sie die Katastrophe selbst über sich gebracht haben. „Ihr jammert und klagt? Jammert und klagt über euch selbst! Ihr habt Gottes Wege verlassen und seid eure eigenen Wege gegangen, habt nur an euch gedacht und euren eigenen Vorteil und seid so geradewegs ins Unheil gelaufen." Das ist seine zentrale Botschaft über viele Kapitel und – so können wir annehmen, für viele Jahre. Er weigert sich, die Erwartungen der Exilierten zu erfüllen. Er bleibt dem Wort Gottes treu.


Wie wird eine Welt in 30 Jahren aussehen, wenn tatsächlich eingetreten ist, was der Großteil der zum Thema Klima forschenden Wissenschaftler schon seit 30 Jahren predigen? Sie sind die Propheten der heutigen Zeit. Ein 14-jähriges Mädchen aus Schweden hat sich zum Wächteramt berufen gefühlt, zum prophetischen Wächteramt. Sie spricht aus, was der Stand der Forschung ist. Sie benennt den Untergang, auf den wir zugehen. Das gefällt vielen Menschen nicht. Dass eine 14-Jährige den Erwachsenen und den erfahrenen Politikern meint, sagen zu müssen, was zu sagen ist. Warum ist das überhaupt nötig? Weil über vier Jahrzehnte, seit dem ersten Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums 1972, diejenigen, die das politische Wächteramt innehaben, wenig bis nicht auf die Stimme der wissenschaftlichen Propheten gehört haben. Warum? Weil es, wie bei Ezechiel, Klage, Weh und Ach ist, was die Wissenschaftler zu sagen haben. Weil es Erkenntnisse sind, die weh tun. Erkenntnisse, die einschneidende Veränderungen verlangen, die unser aller Leben betreffen. Wenn wir diese Welt für unsere Kinder und Enkel unbewohnbar gemacht haben und sie in für uns unvorstellbaren Bedingungen leben müssen: Wer wird und kann ihnen dann Tröstendes, Aufbauendes, Hoffnung Stärkendes zusagen? Wird es nicht ein zweiter Ezechiel sein, der ihnen zusagt: Eure Großeltern und Eltern und ihr habt es gewusst, was kommen wird. Aber ihr wolltet es nicht wissen. Die Menschheit selbst hat heraufbeschworen, worüber sie jetzt jammert und klagt.


Vielleicht ärgert sie das, was ich eben gesagt habe. Vielleicht denken sie „Jetzt muss man sich das, was tagtäglich überall zu lesen und zu hören ist, auch noch im Gottesdienst anhören." Vielleicht ärgert es sie auch, wie sich unsere Landeskirche in diesen Fragen einmischt und engagiert. Ich gebe zu: auch ich trage diesen Reflex in mir, nichts mehr davon hören und sehen zu wollen. Weil dieses Thema uns so ohnmächtig macht. Es gibt kleine Schritt in die richtige Richtung. Unsere Landeskirche hat die Stromverträge aller Gemeinden gekündigt und umgestellt auf Naturstrom. Das ist bei einem Großbetrieb wie der EKHN eine gewaltige Senkung des CO2 Ausstoßes. Aber es ist natürlich angesichts der Tragweite dieses Themas ein Tropfen auf den heißen Stein. Ähnlich zaghaft und halbherzig ist bisher das Klimaprogramm unserer Regierung. Schritte in die richtige Richtung, aber zu wenig in Anbetracht des Notwendigen. Männer wie Ezechiel, Propheten Israels, erinnern mich daran, dass eines der Ämter, das Kirche hat, das Wächteramt ist. Wir müssen darauf achten, dass die Wahrheit ausgesprochen und gelebt wird – auch dort, wo es unbequem und unangenehm ist. Ezechiel hätte ein sehr viel schöneres und gemütlicheres Leben haben können, wenn er seinen Mitbürgern freundliche, nette Wahrheiten gepredigt hätte. Wenn er gesagt hätte, was sie hören wollten. Dass sie die Guten, die Babylonier die Bösen sind und warum eigentlich die Bösen gegen die Guten gewonnen haben. Dass da ein Irrtum Gottes vorliegen muss, den er gefälligst zu korrigieren hat. Aber hoppla, mal möglichst schnell, damit wieder alles so wird, wie es einmal war. Gott sagt ihm bei seiner Berufung klipp und klar, was er zu erwarten hat, wenn er ihnen die Wahrheit, wenn er ihnen Gottes Wort ausrichtet: „Es sind wohl widerspenstige und stachlige Dornen um dich, und du wohnst unter Skorpionen; aber du sollst dich nicht fürchten vor ihren Worten und dich vor ihrem Angesicht nicht entsetzen – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs." Wenn Menschen die Wahrheit nicht hören wollen, werden sie zu stachligen Dornen und Skorpionen. Dann versprühen sie Hass und Wut. Das kann man jeden Tag im Netz verfolgen, wieviel Hass, Niedertracht und Wut etwa Greta Thunberg auf sich zieht.


Ich höre einen weiteren Einwand: „Warum setzt der Prediger das Wort Gottes, das Ezechiel von Gott selbst aufgetragen bekommt, mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Klimawandel in eins? Hängt man damit nicht einem umstrittenen Thema ein religiöses Mäntelchen um?" Der Einwand ist berechtigt – würde mich aber missverstehen. Das Wort der Klimawissenschaftler ist nicht Gottes Wort. Es ist menschliche Erkenntnis. Erkenntnis, die wie jede wissenschaftliche Erkenntnis, irren kann. Das unterscheidet sie von Gottes Wort. Gleich oder ähnlich sind aber die Mechanismen, mit denen wir Menschen auf Gottes Wort und auf wissenschaftliche Erkenntnis reagieren, wenn sie uns nicht passen. Wir wollen sie nicht hören. Wir machen den Propheten und den Wissenschaftler verantwortlich für seine Unglücksbotschaft, werden zu stachligen Dornen und Skorpionen für sie. Wir lehnen die Zumutungen ihrer Botschaften ab. Wir wählen Politiker, die uns zu viel zumuten, ab. Was meint ihr denn, warum die Politik so zaghaft und wenig sachgerecht auf den Klimawandel reagiert, den wir seit 2 Jahren ja ganz hautnah erleben? Jeder Politiker weiß, dass ein Wähler, dem er zu viel zumutet, zum Skorpion wird. Der ihn sticht, indem er ihn nicht mehr wählt. Israels Propheten wurden verhauen, verfolgt, verspottet, weil niemand hören wollte, was sie sagten. Wären sie wählbar gewesen wie unsere Politiker, hätte man sie nicht wiedergewählt.


Ezechiel tritt ein Amt an, das zum Scheitern verurteilt ist. Er bekommt das auch gesagt: „Und die Kinder, zu denen ich dich sende, haben harte Köpfe und verstockte Herzen. Zu denen sollst du sagen: »So spricht Gott der HERR!« Sie gehorchen oder lassen es – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs –, dennoch sollen sie wissen, dass ein Prophet unter ihnen gewesen ist." Sie sollen wissen, dass ein Prophet unter ihnen gewesen ist. Ezechiel und die großen Propheten Israels sind einsame Rufer in der Wüste. Ungeliebte Mahner. Aber sie halten das aus. Warum? Warum tut sich ein Mensch das an? Es ist Liebe, die sie dazu treibt. Die innige Liebe zu ihrem Gott, der ihnen diesen Auftrag gegeben hat, Liebe zu seinem Wort. Auch dann, wenn es unbequem ist. Für sie selbst und für ihre Zuhörer. Marc Chagall hat diese Männer für mich in einem seiner Bilder bildlich verewigt. Es zeigt einen jüdischen Mann in inniger Umarmung und im Tanz mit einer Thorarolle. Wie eine Geliebte hält er sie zärtlich im Arm, nichts passt zwischen sie und ihn, nichts kann sie trennen.
Dieses Bild setzt mich auf eine letzte gedankliche Spur. Es ist nicht die Angst, die Furcht, die uns als Menschen verändert und Änderungen akzeptieren lässt. Es ist die Liebe. Die Liebe zu Gott und zu den Menschen, die Liebe zur Schöpfung und den Geschöpfen. Wir alle brauchen für den notwendigen Wandel Kraft und Mut und die gewinnen wir nicht aus Furcht vor dem Untergang. Die gewinnen wir – wie der Prophet – aus Visionen. Aus Visionen einer anderen, erneuerten Welt. Wir müssen anfangen, davon zu träumen, was wir gewinnen können durch einen Wandel in vielen Lebensbereichen. Statt Albträume zu haben vor dem, was wir verlieren könnten. Wir sollten uns auf die Suche machen nach dem Geschmack des Honigs in den Botschaften, die uns bis jetzt nur als Klage, Ach und Weh erscheinen. Jesus war ein großer Visionär der Umkehr zum Leben hin – das unterschied ihn von den alten Propheten Israels, die meinten, sie würden die Menschen mit ihren Gerichtsdrohungen zur Umkehr bewegen. Umkehr braucht positive Energie, wie sie Jesu Leben und Predigt vom Gottesreich, von einer erneuerten Welt, ausstrahlte. Er war mehr als ein Wächter Israels, er war Seelsorger, Begleiter und Führer zu einem anderen Leben hin, zu einem Reich jenseits der eingefahrenen und etablierten Reiche, das er Reich Gottes nannte.

Sein Frieden, der höher ist als alle Vernunft
bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!

Amen