Predigten

Predigt zur Jahreslosung 2021

Predigt am 31.12.2020
Predigttext: Jahreslosung 2021, Lukas 6, 36
Prediger: Pfr. Philip Messner


„Seid barmherzig, wie auch euer Vater
barmherzig ist." Lukas 6, 36


Gnade und Friede sei mit euch von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.

Liebe Gemeinde,

manchmal habe ich es schwer, mit dem Auto aus der Anton-Jäger-Straße zu kommen. Die Straße ist bis an die Biegung so vollgeparkt, dass ich nicht in die Bonhoeffer-Straße schauen und sehen kann, ob ein Auto kommt. Ich muss es im Blindflug versuchen und mich langsam in die Straße vortasten. Manchmal habe ich Glück und die Straße ist frei, und manchmal kommt ein Auto entgegen. Wie neulich erst: Die Fahrerin schüttelte nur verständnislos mit dem Kopf. Sie hatte einen kalten und versteinerten Gesichtsausdruck. Ich merkte ihr förmlich an, wie sie auf ihrem Recht bestand, die Straße zu befahren. Dass ich sofort zurücksetzte, fand sie gar nicht weiter beachtenswert. Das war ein Moment, in dem ich mir mehr Barmherzigkeit gewünscht hätte. Mehr Einfühlung in meine vertrackte Lage, denn das die Straße zugeparkt war, war offensichtlich. Ich bin mir sicher: Sie kennen solche oder ähnliche Situationen auch. Situationen, in denen man sich mehr Barmherzigkeit von anderen wünscht. Oder Situationen, in denen man über die eigene Unbarmherzigkeit erschrickt.

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist." Das ist das biblische Wort für das Jahr 2021. Es regt uns an, über Barmherzigkeit nachzudenken. Es regt uns an, unser Leben mit Barmherzigkeit zu füllen. Was verbinden Sie mit dem Wort barmherzig? Kommt es in Ihrem Alltag vor? Wird es so selten gebraucht, weil wir die Welt nicht als barmherzig erleben?
Das Gegenteil von Barmherzigkeit ist menschliche Kälte. Nur sich selbst sehen, sein Recht, seine eigene Meinung, das ist das Gegenteil zu Barmherzigkeit. Es kann ja manchmal Selbstschutz sein: sich Dinge vom Leib halten, nicht alles auf sich einstürmen lassen aus der Sorge heraus, sich im Leid anderer Menschen zu verlieren. Das Wort Jesu macht Mut, diese Sorge zu überwinden. Barmherzigkeit macht stark. Barmherzig mit den kleinen und großen Nöten unserer Mitmenschen zu sein - das ist die Grundlage für ein erfülltes Leben.

Ich denke öfter, dass es die Sprache der Barmherzigkeit gerade schwer hat. Schnell fallen die Fehler und Unzulänglichkeiten der Mitmenschen ins Auge. Dass man unvollkommen oder nicht immer Recht hat, wird gern ausgeblendet. Wer irgendeinen Fehler macht, wird in den sozialen Netzwerken zuweilen geradezu hingerichtet. Unerbittlichkeit, Häme und Hass verdrängen alle Barmherzigkeit.
Die Rettung von Flüchtenden auf dem Mittelmeer kommentieren im Internet manche zum Beispiel so: „Lasst sie ertrinken, denn sie sind doch selber schuld, wenn sie sich in solche Lebensgefahr begegnen." Das ist ein Ausdruck menschlicher Kälte und meilenweit weg von dem Wort Jesu: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!"

Wider alle menschliche Gnadenlosigkeit soll in diesem Jahr das biblische Gottesbild strahlen: Gott, euer himmlischer Vater, ist barmherzig. Er hat ein Herz für uns Arme. Er leidet, wenn wir leiden. Er ist traurig, wenn wir trauern. Er freut sich, wenn wir uns freuen. Gottes Barmherzigkeit liegt darin, dass er Mensch geworden ist, in Jesus Christus in die Welt gekommen ist. Es liegt große Liebe darin, anderen gleich zu werden, sich unter die gleichen Lebensbedingungen zu begeben wie sie. Das ist das Wunder unseres Glaubens: Gott ist Mensch geworden, einer von uns. So kommt er uns in allen unseren Nöten nahe. Es wird immer wieder erzählt, wie Jesus es jammert, wenn er kranken Menschen begegnet. Er lässt sein Herz bewegen. Und sogar den Tod teilt er mit uns.

So wie Gott barmherzig ist, so auch wir: In einer alten Tradition spricht man von der »Imitatio dei«, das heißt, von der Nachahmung Gottes. Was fast wie Gotteslästerung klingt, so als ob wir Gott gleich werden wollten, ist im Grunde die bescheidene Nachfolge, die von uns erwartet wird. »Mach's wie Gott, werde Mensch« ist ein alter Leitspruch in dieser Tradition. Gott nachzuahmen, meint eben nicht, Gott spielen oder über andere herrschen zu wollen; im Gegenteil, es meint ganz bescheiden, eben ein Mensch zu werden; menschlich im wörtlichen Sinne zu sein; ein Mensch, der in Resonanz zu anderen Menschen steht, barmherzig ist, also Mitgefühl empfinden kann. Barmherzig sein bedeutet, sich für die Not anderer Menschen öffnen. Gott tut das. Wie Gott barmherzig ist, sollen auch wir barmherzig sein. So schlicht ist die christliche Lebensphilosophie. Es gibt unzählige Menschen, die dies in ihrem Alltag leben, ganz bescheiden, ohne viele Worte zu machen. Dazu haben im letzten Jahr die vielen Menschen in der Pflege und im Gesundheitswesen gehört, die teilweise auch ihre eigene Gesundheit riskiert haben. Diejenigen, die Kranken und alten Nachbarn geholfen haben, in der Telefonseelsorge aktiv waren, bei den Essenstafeln und so viele andere, die man nicht alle nennen kann. Barmherziges Handeln, beherztes Handeln war eine wichtige Ressource in der Bekämpfung dieser Notlage gewesen.

In diesem Pandemie-Jahr kommt es wesentlich auf Barmherzigkeit an. Daran entschiedet sich, ob wir geschwächt oder gestärkt aus dieser Erfahrung hervorgehen. Wir werden im kommenden Jahr abwägen und einen Weg suchen zwischen Gesundheitsschutz und Freiheitsrechten: Es kann nicht darum gehen, lautstark und mit Getöse mehr Freiheiten einzufordern und einfach so tun, als wäre das nicht weiter schlimm. Das ist unmenschlich und zynisch gegenüber allen, die diese Krise gesundheitlich und finanziell hart trifft. Es wird in allem Abwägen und Diskutieren um den barmherzigen und mitfühlenden Blick auf die konkreten Lebenslagen der Menschen ankommen. Um ein sorgfältiges Abwägen und Überlegen, wie wir weiterleben und Gesundheit schützen können. Es kommt auf die Einfühlung in die Lage des anderen an: Sich in die Lage einer 87-jährigen Frau versetzen in ihrem Seniorenheim; oder in die Lage einer Krankenschwester, die angesichts vieler Kranken mit COVID 19 keine Kraft mehr hat. Aber genauso auch den Familienvater sehen, der Sorge um das Auskommen hat. Oder das Kind in einer kleinen Wohnung, das spürt, wie die Angst der alleinerziehenden Mutter um sich greift. Das möge uns in diesem Jahr zur Barmherzigkeit bewegen.

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist." Das ist ein Auftrag Gottes in diesem Jahr an uns: Sei barmherzig mit dir, sei barmherzig mit anderen, du verlierst nichts dabei. Im Gegenteil: Du gewinnst. Wir werden diese Barmherzigkeit in 2021 sehr brauchen. Bei allem, was in diesem Jahr kommen wird, dürfen wir uns der Barmherzigkeit gewiss sein: Gott ist die Quelle der Barmherzigkeit. Wenn es uns kalt ums Herz wird, und wenn wir es manchmal kaum schaffen, für andere Wärme aufzubringen, dann können wir zu Gott kommen. Dann können wir uns am Feuer seiner Liebe wärmen. So frieren wir nicht mehr und die Menschen um uns herum spüren es.
Ich wünsche uns, dass wir Gottes Barmherzigkeit spüren. Und dass wir einen Weg finden, etwas von dieser Barmherzigkeit selbst zum Ausdruck bringen. Selbst ein Licht und ein wenig Wärme in die Welt zu bringen, das möge unsere Losung für das neue Jahr werden. Das macht die Welt menschlicher und lebenswerter. Das ist ein guter Vorsatz fürs neue Jahr: Aus der Kraft Gottes barmherzig zu leben.

Pfarrer Philip Messner,
Bierstadt 2021